Anja Jonuleit: Rabenfrauen

Vielleicht das erschütterndste Buch, das ich im letzten Jahr gelesen habe. Eine verspätete Rezension, anlässlich der Neuerscheinung von Anja Jonuleit. Vor ein paar Tagen kam ihr Roman „Kaiserwald“ heraus, ich freue mich darauf.

In „Rabenfrauen“ erzählt Anja Jonuleit eine Verführungsgeschichte, eine Geschichte voller Manipulation, Gewalt, Entsetzen und Hilflosigkeit. Es ist eine Geschichte über die Colonia Dignidad. Und es ist eine Geschichte darüber, was eine „überwertige Idee“ aus Menschen macht, aus den Peinigern und aus den Opfern.

„RUTH. Lange Zweit habe ich geglaubt, dass Erich an allem schuld war. Dass all das ohne ihn niemals geschehen wäre. Ich habe meinen Hass auf ihn genährt, und erst jetzt, da ich kurz vor meiner großen Reise stehe, frage ich mich manchmal, ob nicht auch er ein Opfer war. Wie Christa und all die anderen, die wie die Lemminge auf den Abgrund zusteuerten. Obwohl es mir schwerfällt, die mit den Knüppeln als Opfer zu sehen.“

S. 9
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Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen

Dieses Buch hat mich ganz und gar in seinen Bann gezogen. Schon der erste Roman von Raphaela Edelbauer: „Das flüssige Land“ hat mich begeistert, weil es eine selten so wahrgenommene Gabe ist, Worte einsetzen zu können, die auf ganz unmittelbare Art komplexe Gefühle und gleichzeitig Bildwelten zum Ausdruck bringen. Deshalb ist man auch so gebannt: man sieht und spürt Dinge, von denen man bisher nicht wusste, dass man sie sehen und spüren kann. Eine der großartigsten Schriftstellerinnen unserer Zeiten!
Die Inkommensurablen – das sind einerseits Irrationalzahlen:

„Sie sind unendlich, manchmal transzendent und können doch von jedem Kind mit einem Dreieck gezeichnet werden.“

S. 42
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Ulla Coulin-Rieger: Es wird so unbemerkt zu spät

Ein nachdenklich stimmender Text zu einem Phänomen dieser Zeit, das wir einfach nicht so recht einordnen können. Von manchen Rezensent*innen als „Der Burnout-Roman unserer Tage“ bezeichnet, wird in „ Es wird so unbemerkt zu spät“ zu einem vielschichtigen Krankheitserscheinungsbild eine Skizze dargeboten, die es stellenweise wie eine ansteckende Viruserkrankung erscheinen lässt.

„Dr. Helfrich, der sich gerne in Metaphern auszudrücken pflegte, lieh sich auch diesmal ein Bild aus der Natur: >>Gleich der weißbeerigen Mistel<<, erklärte er seinen Assistenzärzten, >>deren Samen im Frühling durch Wind und Vogelkot in die Kronen unserer Obstbäume gelangt, wo der Keimling dann im Herbst deren Säfte anzapft und sich allmählich nach außen in verzweigten Kugeln offenbart, genauso nistet sich der unbekannte Erreger im limbischen System des Menschen ein, mitten im Zentrum unseres Fühlens und Bewertens.<<“

S.5
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Benedict Wells: Becks letzter Sommer

Es gibt wenige Passagen, in denen die damalige Jugend des Autors herausklingt. Das liegt auch daran, dass Benedict Wells’ Schreibstil so betont lässig daherkommt. Ich stelle mir beim Lesen vor, wie dieser 24-jährige Autor damals, selbst ein bisschen so aussehend wie Beck in dieser Geschichte, den Roman einfach so aufs Papier gebracht hat, ohne große Anstrengung, flüssig, in einem Guß. So liest er sich jedenfalls.
Beck ist siebenunddreißig Jahre alt, Lehrer – was nie wirklich sein Wunschberuf war -, Liebhaber ohne echt lieben zu können , Musiker -der die Leidenschaft verloren hat, also kurzum, jemand, der sich fragt, was er von diesem Leben noch will. Es sind die außergewöhnlichen Begegnungen, die zu ungewöhnlichen Entscheidungen führen und plötzlich ist alles anders und vieles möglich.

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Lisa Roy: Keine gute Geschichte

Kabelsalat, bis jemand den Stecker zieht. Es ist hirnerfrischend, wenn jüngere Autor*innen mit einer eigenen Sprachkunst auftreten und es verstehen, in einer tragischen Verknüpfung von Dramatik und Situationskomik die spezifischen Facetten gesellschaftlicher Milieus zu zeichnen. Lisa Roy, die mit ihrem Roman „Keine gute Geschichte“ ihr Debüt abgeliefert hat, schreibt mit einer Feder, die ganz eigenwillig auch die düstersten und deprimierendsten Lebenssituationen der Protagonistin in einen Kontext aus persönlicher Schicksalsgeschichte und gesellschaftlicher Milieubedingtheit stellt und dabei immer einen besonderen Ausdruck dafür findet.

Arielle Freytag „hat es eigentlich geschafft“, heißt es im Klappentext. Sie ist Anfang dreißig, Social Media Managerin – gewesen – , gutaussehend, sie begehrt und ist begehrenswert, finanziell gut ausgerüstet und kommt nun, nach zehn Jahren und einem Klinikaufenthalt zurück nach Essen in einen Stadtteil, der als „prekär“ bezeichnet wird. Auch ein Unding, aber genau mit diesen gesellschaftlichen Zuschreibungen spielt Lisa Roy in ihrer Geschichte.

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Katrin Burseg: Adas Fest

Wie soll man verarbeiten, dass sich das ganze Leben, das eigene und das der Familienmitglieder, als ein anderes entpuppt, als man geglaubt hatte? Katrin Burseg zeichnet ein interessantes Panorama einer Künstlerfamilie, die durch einen Angriff von einer einstmals nahestehenden Person in ihren Grundfesten erschüttert und dazu gezwungen wird, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Jedes Familienmitglied tut das auf seine je eigene Art. Es gibt zwar eine gemeinsame Vergangenheit, aber die Betroffenheit ist sehr unterschiedlich. Das ist Katrin Burseg sehr gut gelungen: man versucht sich einer gemeinsamen Geschichte zu versichern und stellt fest, dass jeder Standpunkt innerhalb des Familiengefüges sehr unterschiedliche Wege der Erinnerung zeichnet.
Mit den Erinnerungsfetzen tauchen Bilder auf, aber auch Lücken. Der schmerzhafte Prozess, dessen es bedarf, um die Versatzstücke neu zu ordnen, bringt das Leben der Töchter des Künstlers Leo Kwant und der Fotografin Ada Kwant an den Rand des Ertragbaren.

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Paolo Cognetti: Das Glück des Wolfes

Aus dem Italienischen übersetzt von Christine Burkhardt

Kleines, feines 200 Seiten Buch im gewohnten Cognetti-Stil. Die Berge, der Wunsch nach einem einfacheren, naturverbundeneren Leben und das wiederkehrende Scheitern, sowohl im städtischen Leben als auch bei den Berglern, diese Grundzutaten seiner Geschichten berühren mich immer wieder.

„Fausto war vierzig und auf der Suche nach einem Neuanfang, als er Zuflucht in Fontana Fredda fand.“

S.9


Er liebt die Direktheit, mit der die Natur ihn ergreift, in ihrer Schönheit und in ihrer Grausamkeit.

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Antje Ravik Strubel: Blaue Frau

Es war die Autorin, die mich sehr berührt hat und die mir, noch nicht ganz zu Ende mit der Lektüre, einige zusätzliche Blickwinkel eröffnet hat. Wir hatten hier bei den Isnyer Literaturtagen die Freude, diese Schriftstellerin live zu erleben. Zur Einleitung erklärte sie, wie diese Figur, Adina, sie bewohnte, wie sie aus einer alten Geschichte als unfertige Figur wieder auftauchte, bei ihr einzog und die Wohnung nicht mehr verlassen wollte – was die Lektorin bei der ersten Rückfrage nicht gerade goutierte. Was sollte daraus werden?
Antje Ravik Strubel bietet ihren Figuren einen Ermöglichungsraum. Wer schreibt und dabei seine Figuren frei lassen kann, erlebt selbst die größtmögliche kreative Erweiterung und schafft für die Leser*innen eine Atmosphäre, die immer wieder über einen Storyplot hinauswächst. Damit hatte sie mich voll und ganz. Gerne hätte ich noch mit ihr darüber gesprochen, wie den Gestalten ihre Handlungselemente zuwachsen. Nächstes mal.

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Benjamin Myers: Offene See

Eine Geschichte über das selbst gewählte Leben, Lieben und Sterben und die Elastizität der Zeit.

Der Erzähler der wunderbar bildhaften Geschichte ist ein in die Jahre gekommener Schriftsteller, wir vergessen das im Lauf der Geschichte und erinnern uns erst wieder ganz am Ende daran. Er blickt zurück auf die eine, entscheidende Etappe in seinem Leben, die ihn zu dem gemacht hat, was er geworden ist: die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, die zusammenfällt mit seinem Aufbruch ins Leben, ins Ungewisse, ins Poetische.

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Susanne Thomas: In Zeiten des Tulpenwahns

Für Liebhaber*innen historischer Romane, verbunden mit der Dramatik der gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Innenschau einer Figur, ist Susanne Thomas’ Roman ein sprachlich und stilistisch gelungenes Buch. Die Autorin zeichnet einige schöne Sprachbilder, in denen sie dem Duktus der Zeit und der jeweils dargestellten gesellschaftlichen Schicht Rechnung trägt. Das Stilmittel, Situationen über die historischen Gemälde der großen niederländischen Maler zu beschreiben, ist so schön wie eindrucksvoll.

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